Dienstag, 29. Januar 2013

Fahrstuhlimpressionen


Mit einem rollenden Geräusch gleitet die Schiebetür beiseite. Schweigend sehe ich mich am Eingang stehen. Mein Spiegelbild zeigt einen unrasierten und schäbigen Menschen - ganz anders als die Mustertypen aus dem Fernsehen. Fettschlieren verunstalten den Spiegel, davor prangt ein Balken, an dem man sich festhalten kann. Spiegel und Balken erinnern an die Ausstattung eines Ballettsaals. Ich quetsche mich in die Enge und wende mich der Tastenleiste zu. Meine Fahrt führt in den zehnten Stock, nach oben, zu den besseren Kreisen. Während ich gegen die Wand lehne, höre ich ein schmatzendes Geräusch, als ob der Fahrstuhl mich verschlingen wollte. Meine Schuhsohlen kleben am Linoleumboden - wahrscheinlich hat vor kurzem jemand eine Flasche Cola darauf verschüttet.

Die Schiebetür schließt sich, und mir steigt der Geruch von Schweiß und Zucker in die Nase. Säuselnde Entspannungsmusik schwappt in die Stille, untermalt von einer sonoren Herrenstimme, die mich zum Abschluss einer Privatversicherung drängt. Gleich nachher soll ich meinen Kundenberater darauf ansprechen. „Handeln Sie jetzt! Sichern Sie sich eine sorglose Zukunft!“ - Mir läuft ein Schauder über den Rücken, während auf der Stockwerkanzeige eine grüne Vier aufleuchtet. Die Fliehkraft wirbelt meine Magensäfte durcheinander und mir ist, als ob ich in die Tiefe stürzte. Der Fahrstuhl bremst ruckartig ab. Einen Moment lang wird mir schwindlig. Schließlich springt das Display auf Stockwerk fünf. Ich kusche mich lautlos in die Ecke und sinne nach, was mich hierher geführt hat – vielleicht der Wahnsinn?

Die Schiebetür ruckelt schleifend zur Seite. Ein älterer Herr steht am Eingang. Er stützt sich auf seinen Spazierstock und starrt mich verkniffen an. Plötzlich fühle ich mich fehl am Platze. Eine innere Stimme rät mir, den Fahrstuhl zu verlassen. „Dem Alter gebührt der Vortritt“, habe ich als Kind gelernt, doch seit den Unworten „Rentnerschwemme“ und „sozialverträgliches Frühableben“ scheint das nicht mehr zu gelten. Dem Zeitgeist zum Trotz, zwingt mich meine Erziehung weiter in die Ecke. Ich ziehe mein Genick ein und lächle dem Alten ins Gesicht. Statt meine Höflichkeit zu erwidern, blickt er ungerührt durch mich hindurch - mit dem Charme eines Boxerhunds. Nun ja, denke ich bei mir, wenigstens hat er seine Lektionen gelernt: Er geht mit messerscharfen Ellbogen durchs Leben.

Als sich die Schiebetür wieder schließt, drängen sich fünf Personen im Aufzug - der Boxergreis, eine dreiköpfige Familie und ich. Zuerst haben sich Vater und Mutter noch angeregt unterhalten, aber seitdem wir im Pferch stehen, schweigen alle.  Von oben betrachtet sind unsere Köpfe wie auf einem Spielwürfel angeordnet: Jeder von uns strebt nach Raum, und jeder wirkt verlegen. Etwas muss dran sein, an der Aura des Menschen. Die Enge verbreitet eine Spannung, die beklemmend wirkt. Mir ist, als stieße jemand mit einem Messer durch meinen Schutzschirm. Die aufgezwungene Nähe macht mich nervös und zwingt meinen Blick auf den Linoleumboden zurück. In Gedanken zähle  ich die Sekunden bis nach oben. Den anderen Fahrstuhlgästen ergeht es ähnlich- sie schweigen und sie schwitzen.

Endlich springt die Tür auf. Tageslicht flutet die Kabine. Wir blicken in einen Sarkophag aus Glas und Stahl. Niemand, der hier verkehrt, tut das freiwillig. Aber die Herrschaften im Nadelstreifen lenken die Geschicke der Welt, und wer nicht untergehen will, muss gelegentlich an ihre Tür klopfen. Jedenfalls machen sie uns das glauben. Wir zweifeln nicht an ihrer Wahrheit, weil sie Experten sind und wir nur Bittsteller und Schuldner. Die Fahrt im Aufzug erscheint mir wie ein Gleichnis: Je weiter es nach oben geht, umso enger wird der Raum und umso beklemmender die Atmosphäre. Wenn nämlich alle dasselbe Ziel haben, kann keiner mehr dort ankommen. Mit diesen Gedanken wende ich mich ab und trete zurück in den Fahrstuhl. Als sich die Schiebetür wieder öffnet, drängt sich eine Putzfrau an mir vorbei.

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