Wenn ich an meine Kindheit
zurückdenke, tauche ich in die Geschichte eines Außenseiters ein. Als Sohn
protestantischer Eltern wuchs ich in einem oberschwäbischen Kuhkaff auf. Und
dabei war ich noch nicht einmal getauft. Deshalb schnitten mich manche Lehrer
und Schüler wie einen Aussätzigen. Scheitholz für die Hölle sahen sie in mir -
einen wertlosen „Reingeschmeckten“, einen Jungen, der noch nicht einmal wusste,
wie man artig Rosenkränze betete. Trotzdem faszinierten mich die katholischen
Kulte und ich mogelte mich, so oft es ging, mit den Recht-gläubigen in die
Kirche. Zwei Dinge gab es da für mich zu entdecken: Zum einen den alten
Bischoff, der zur Messe Bachs Orgelfugen spielte; zum anderen Gesangbücher mit Goldschnitt.
Wenn man sie aufklappte, legten sich die Seiten stoßweise übereinander und bildeten
zwischen Buchdeckel und Aufschlag ein stufenartiges Muster. Neugierig strich
ich mit meinen Fingern über die Papieroberfläche, die in verschiedenen
Goldtönen schimmerte. Die Notenlinien und Noten, der altdeutsche Textdruck, das
raschelnde Geräusch beim Umblättern – all das machte mich neugierig. Ich
erahnte Geheimnisse, die einem
Protestanten wohl niemals zugänglich sein würden. Das war der Tag, an
dem Bücher mich gefangen nahmen.
Gedruckte Worte zogen mich seitdem magisch an. Aber nicht als Lesestoff.
Nein, zunächst waren Bücher Gegenstände zum Anfassen und Bewundern. Welche
Geschichten darin geschrieben standen, interessierte mich noch kaum. Allein die
Schrift- und Zeichenprägungen der Einbände und die Präzision der Faden-heftung regten
meine Fantasie an. Das galt besonders bei den Gesangbüchern aus der Kirche. Ich
fragte mich, durch wie viele Hände sie wohl gegangen waren und was die Leute beim Singen und Lesen empfunden
haben mochten. Gesangbücher waren für mich Zeugnisse der Vergangenheit, an
deren Texten sich die Seelen etlicher Menschen abgerieben hatten. Wenn ich die
kalten Blätter und die Einbandgravuren ertastete; wenn ich mit meinen Fingern
über den Vorderschnitt strich, war das, als ob ich den Staub von tausend Seelen
berührte. Staub, der sich im Lauf der Jahre zwischen den Buchdeckeln verfangen
hatte und einen historischen Atem verströmte. Jeder Fleck, jeder Knick, jeder
Riss im Papier schien mir von Kirchgängern erzählen zu wollen. Bücher waren etwas Erhabenes und Schönes, das
auch ohne Worte zu faszinieren vermochte. Ich schaute sie gerne an und
blätterte darin, besonders wenn es sich um schöne, gebundene Ausgaben handelte.
Sie waren für mich Kunstobjekte, deren Wert sich aus einer Mischung aus äußerer
Ästhetik und inneren Geheimnissen speiste. Deshalb bewunderte ich Buchbinder-handwerk,
Druckkunst und Schriftstellerei gleichermaßen. Meine Lust am Schreiben hatte
damals noch wenig mit einem inneren Erzähldrang zu tun. Vielmehr kam mir es auf
das fertige Werk an. Ich wollte etwas in den Händen halten, das meinen Namen
trug und wie ein Buch aussah: Dieser Antrieb, eine Mischung aus Eitelkeit und
Liebhaberei, brachte einen Impuls in mein Leben, der mich seither immer wieder bestimmt
hat.
Schreiben wollte ich. Aber was sollte ein
kleiner Junge schon Schreiben? Wen interessierte, was ein Kind zu sagen hatte?
Und wie sollte ich meine Gedanken überhaupt in Worte fassen? An einem
regnerischen Sommertag gegen Ende der Siebziger Jahre, überkam es mich
schließlich: Ich nahm mir mehrere Blätter weißen Papiers, faltete sie mittig
und kratzte mit dem Daumennagel über die Faltkanten, damit ich die Blätter reißen
konnte. So entstanden aus sperrigen DIN
A 4 Bögen kleinere DIN A 5 Seiten, die schon mehr an typische Buchformate
erinnerten. Mit dem Blattstapel setzte ich mich an den Wohnzimmertisch, nah bei
meiner Mutter. Sie legte eine Zeichenunterlage an meinen Platz und ich begann,
Texte aus der Bibel abzuschreiben - in Druckschrift versteht sich. Buchstabe
für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz beschrieb ich die Blätter, immer
sorgfältig darauf bedacht, dass die Ränder gerade waren und die Zeilenabstände
stimmten. Ganz nebenbei lernte ich dabei die Sprüche Salomos kennen. Aus dem
Religionsunterricht kannte ich Bibeldrucke, bei denen Anfangsbuchstaben von
Arabesken umrankt waren. Natürlich versuchte ich das nachzuahmen. So sprossen
Blätter und Blüten auf dem Papier, die ich mit Buntstiften bemalte und mit
Tinte nachzeichnete. Keine meiner Seiten befriedigte mich. Krumm und
unvollkommen tanzten meine Buchstaben übers Blatt, die Zeilenabstände
schwankten und an manchen Absätzen schien das ganze Textbild verschoben.
Meine Mutter beobachtete mich
aufmerksam. Manchmal schüttelte sie dabei lächelnd den Kopf. Sie saß vor ihrer
Nähmaschine und ließ Stoff unter dem Nähfuß durchrattern. Wie so oft
schneiderte sie Faschingskostüme für die Narrenzunft. Das brachte ihr ein wenig
Kleingeld ein, um die Rechnungen zu bezahlen. Bis heute fühle ich mich in meine
Kindheit zurückversetzt, wenn ich Nähmaschinen höre. Dann sehe ich mich am
Tisch sitzen, eine Tube Uhu in der Hand, und gerissene DIN A 5 Blätter
verkleben. Mein Buchprojekt nahm Konturen an - ich war stolz. Geschrieben hatte
ich zwar wenig und mir war kaum daran gelegen, eigene Gedanken zu fassen. Aber
ich hatte mich mit einer Sache beschäftigt, die mich aufrichtig faszinierte.
Bücher waren etwas Wundervolles! Am Ende presste ich meine Seiten zwischen
Pappdeckel, trug eine dicke Klebeschicht am Buchrücken auf und tunkte drei
Wollfäden in den Kleber. Das war meine Version einer „Fadenheftung“ - eine
kindlich charmante Version, die manchen Erwachsenen in der Siedlung gut gefiel.
Deshalb gelang es mir am Ende sogar, mein Werk an einen alten Mann aus der Nachbarschaft
zu verkaufen. An den Preis kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich nehme aber
an, dass es für ein „Zehnereis“ gereicht hat - zehn Pfennige waren damals
nämlich eine übliche Bezahlung für Kinder. Was aus meinem Erstling geworden ist,
weiß ich nicht. Aber wahrscheinlich existiert das Büchlein ebenso lange nicht
mehr wie mein Käufer.
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